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  • AutorenbildSylvia Kester

LebensKünstler mit Handicap

Aktualisiert: 4. Apr. 2021



„Eigentlich“ passt dieser Beitrag jetzt nicht unbedingt auf einen Kunst- und Reiseblog. Aber wiederum passt er perfekt. Denn es geht um Menschen die ebenfalls auf einer Reise sind. Auf einer Lebensreise mit Handicap. Und das sind für mich grandiose Künstler – nämlich LebensKünstler. Die jeden Tag mit Dingen konfrontiert werden, bei denen die meisten von uns gar nicht wissen, dass dies überhaupt ein Problem sein könnte.

Und mein Sohn ist auch einer dieser Lebenskünstler.





Ich schreibe den Text nach langer Überlegung und doch aus dem Bauch heraus. Nicht als direkt Betroffene aber doch betroffen, aus meiner Sicht als Mutter. Meinen Sohn wollte ich im Prinzip nicht im Blog thematisieren. Aber, vielleicht hilft unsere Einstellung als Eltern zum Thema Integration/Inklusion auch anderen Eltern bei ihrer Entscheidungsfindung.

Die Inspiration dazu kam, als ich vor kurzem mal wieder gelesen habe das eine Familie eine Petition gestartet hat, bei der es darum geht, dass der 10-jährige Sohn, in diesem Fall mit Downsyndrom, einen Platz in der Regelschule bekommen soll, nachdem die Schule dies erst einmal mit Begründung abgelehnt hat.


Integration. Das ist ein Thema mit dem sich wirklich jede Familie mit einem gehandicapten Kind irgendwann befasst – ob schulisch, beruflich oder in der Freizeit. Auch uns ging es so.


Ich finde aber man muss dabei differenzieren. Behinderung ist nichtgleich Behinderung. Man kann auch eine körperliche Behinderung nicht mit einer geistigen Behinderung gleichstellen, bzw. vergleichen. Und auch bei geistigen Behinderungen gibt es so so viele Unterschiede. Es ist wirklich komplex und jeder Mensch muss ganz individuell gesehen werden.

Als Nick vor 28 Jahren auf die Welt kam, ging bei der Entbindung eigentlich alles glatt. Bis die Herztöne plötzlich absanken, die Ärztin hektisch wurde und dann musste alles schnell gehen. Bei uns wurden aber die Defizite erst im Kindergarten festgestellt. Ok, er ist erst mit 2 Jahren gelaufen. Aber da haben wir uns jetzt nicht groß Gedanken gemacht. Nach einem halben Jahr im KiGa, hat uns dann unsere Erzieherin einen FörderKiga nahegelegt. Mit der Feinmotorik hatte er u.a. Probleme, und hat sich dementsprechend bei diffizileren Aufgaben - und wenn es nur darum ging mit der Schere etwas auszuschneiden – schon gleich in die Spielecke verdrückt. Mit dem Alter kamen weitere Defizite dazu. Keine gravierenden, aber doch beeinträchtigende. Uns ging es wahrscheinlich wie den meisten Eltern – man will es erst mal nicht wahrhaben, vor allem weil man beim ersten Kind auch keinen Vergleich hat.


Kurzfassung: Förderkindergarten - man rennt von Arzt zu Arzt – Förderschule – man rennt von Arzt zu Arzt – Montesorischule – man rennt von Arzt zu Arzt: Weil, die Behinderung braucht ja einen Namen – Aber dann, irgendwann, sitzt du da und denkst dir nur „was mach ich da eigentlich. Was tu ich meinem Kind damit an! Bei jedem Arztbesuch sitzt der kleine Wurm neben dir und du musst dem Arzt erklären was er NICHT kann. Und dabei ist er ein Menschlein mit einem ganz liebenswerten Wesen, der doch sein Bestes gibt!


Diese Erkenntnis hat mich eigentlich noch mehr getroffen!


Es ändert sich auch absolut nichts an der Situation selbst, indem du der Behinderung einen Namen gibst. Und wenn du endlich zu dieser Einsicht gelang bist, lebst du leichter und nimmst die Situation auch an. Wir wissen im Übrigen bis heute nicht was der Auslöser war und was es eigentlich genau ist – und das ist auch gut so! Er hat eben einfach ein paar Defizite die ihn jetzt nicht so groß in seiner Lebensführung beeinträchtigen. Und er hat Schwestern, die immer für ihn da sein werden.


Der Vorteil unseres Sohnes ist,

man sieht und merkt ihm seine Behinderung nicht gleich an.

Sein Nachteil ist,

man sieht und merkt ihm seine Behinderung nicht gleich an!


Selbst wir überfordern ihn noch manchmal. Nach der Kindergartenzeit meinten wir auch, es muss doch mit einer Schul-Integration gehen und haben ihn sogar auf einer Montessori Schule angemeldet. Aber selbst da war er irgendwann fehl am Platz und er hat sich in seinem Wesen verändert. Es ginge uns doch nicht anders: Wenn du merkst du stehst bei allem hintenan und kannst nicht mithalten, wie frustrierend ist das dann erst für ein Kind, das die Situation noch weniger versteht. Denn dein Kind sieht sich ja selbst nicht als behindert an.

Du musst einen Menschen mit Behinderung da abholen, wo sein Stand ist. Sonst kann alles auch schnell eskalieren. Und damit ist niemandem geholfen.


Das wäre in etwa so, als würde man eine Hauskatze zu einem Tiger setzen. Nur weil beides Katzen sind heißt das nicht, dass ein Zusammenleben funktioniert!


Nach ausführlichen Beratungsgesprächen haben wir uns dann doch entschlossen, ihn in die Förderschule für körperliche und geistige Entwicklung (die sich sogar glücklicherweise bei uns vor Ort befindet) getan. Und ich muss sagen…


die beste Entscheidung ever!


Hier war er plötzlich Klassenbester. Man hat ihm viel mehr zugetraut und er hat sich selbst wohl gefühlt. Und vor allem auch uns als Eltern ging es besser. Wichtig bei einem Kind mit Behinderung für dich als Eltern, ist der Austausch mit Gleichgesinnten! Hier war ich sogar mit Begeisterung im Elternbeirat (wogegen ich mich bei unseren beiden Mädchen in der Regelschule mit Erfolg gesträubt habe). Die Herzlichkeit, die Offenheit und die Herzenswärme die dir in einer Förderschule entgegengebracht wird – insbesondere auch von den Kids – erlebst du woanders nicht. Und bei 3 Kindern kann ich aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen. Natürlich gehst du am Anfang mit Hemmungen – auch den Kindern gegenüber – um. Aber das legt sich ganz schnell und der Umgang wird irgendwann ganz selbstverständlich. Da nimmst du halt auch mal ein Spucktuch und wischst den Mund ab oder lässt dich ganz unverblümt drücken. Aber vor allem ist wichtig: Dein Kind hat seinen Platz gefunden!


Hast du hingegen tatsächlich doch geschafft, für dein Kind einen Integrationsplatz an der Regelschule zu bekommen, heißt das noch lange nicht das es dort auch herzlich aufgenommen wird. Ich spreche jetzt über einen Integrationsplatz bei geistiger Behinderung.

Wenn sie jünger sind funktioniert es wahrscheinlich noch. Aber je älter sie werden, umso weiter geht die Schere auseinander. Ob beim Sport, bei der Konzentration, bei der Kommunikation, beim Weggehen, bei Freizeitbeschäftigungen. Willst du wirklich, dass dein Kind sich selbst immer als Schlusslicht sieht. Und so wird es sein. Es fällt ihm ja selbst auf das es bei vielem nicht mithalten kann. Und dabei sind es doch die Erfolgserlebnisse die dich stark machen.


Unser Sohn hat das Glück, das er auch jetzt noch sehr viele Freunde aus der Regelkindergartenzeit hat, die immer noch mit ihm ihre Freizeit verbringen – ob beim Fußball, beim Tischtennis oder Golf. In Bezug auf Ballsport hat er irgendwie eine "Inselbegabung". Seine langjährigen Freunde sehe ich als ganz großes Privileg, aber auch als Ausnahme und bin sehr sehr dankbar dafür. Wir waren auch als Eltern schon zu KiGa-Zeit miteinander befreundet und Nick gehörte eben ganz selbstverständlich dazu und das hat sich glücklicherweise bis heute nicht geändert. Obwohl seine Freunde teilweise schon ihre eigene Familie haben. Die Jungs wissen, mit ihm kann man jetzt keine hochtrabenden Gespräche führen, aber Freizeitspaß kann man haben.

Daher finde ich Integration in der Freizeit fast noch wichtiger als in der Schule.


Integration muss sein und noch viel mehr sensibilisiert werden. Das ist gar keine Frage – aber, Integration auch nicht um jeden Preis. Du kannst nichts erzwingen von jemandem der es nicht will. Das funktioniert nicht und es hilft vor allem nicht.



Langfristig denken und planen


Als Eltern eines behinderten Kindes darf man nicht kurzfristig denken und planen. Dein Kind geht zwar jetzt in die Schule, aber auch das ist irgendwann vorbei und dann geht es erst richtig los: Insbesondere dann, wenn es so fit ist, dass sie/er für eine Werkstätte der Lebenshilfe nicht geeignet ist, weil es „unterfordert“ wäre. Und hier fängt das ganze Spiel von vorne an.

Denn es gibt auch ein Leben nach der Schulzeit. Der Berufsweg.


Der 1. Arbeitsmarkt. Natürlich möchtest du jetzt, dass dein Kind einen Integrationsplatz auf dem Arbeitsmarkt bekommt. Ja, nach der Schule ist das die nächste Steigerung. Nick hat sich seinen ersten Praktikumsplatz in Zusammenarbeit mit dem Integrationsfachdienst selbst gesucht. In einem Sportgeschäft. Denn Sport ist seine große Leidenschaft. Wir hatten bisher Glück und er wurde an seinen bisherigen Arbeitsstellen nach einigen Startschwierigkeiten wirklich super aufgenommen. Ja, auch hier waren die Anfänge oft schwierig und es gab auch bei uns Eltern öfters große Verzweiflung und viele Gespräche.


Ein Handicapler braucht eben einfach etwas länger. Die Einarbeitung ist intensiver und zeitaufwändiger. Und das kostet den Arbeitgeber - und auch die Kollegen - Zeit und vor allem Nerven. Und diese Zeit haben viele Firmen oft nicht. Da nützt es auch nichts, dass eine Behindertenstelle bezuschusst wird. Aber Nick hat es doch immer irgendwie gemeistert.

Wenn man in der Gemeinschaft der Lebenshilfe integriert ist, hast du auch bei der Stellensuche immer einen Ansprechpartner an deiner Seite. Heute arbeitet mein Sohn mit absoluter Begeisterung im hiesigen Cap-Markt. Cap-Märkte sind Vollsortiment-Lebensmittelmärkte mit Inklusion. Der hiesige wird von der Lebenshilfe getragen und von Edeka beliefert. Die Hälfte der Mitarbeiter, sind Menschen mit Handicap. Für mich ist es einer der schönsten Läden in der Region!


Zum Abschluss möchte ich noch eines sagen: Selbst heute noch, besucht Nick wenn er Zeit hat, seine alte Schule und seine Lehrer. Und wenn sportliche Veranstaltungen wie Fußball- oder Tischtennisturniere sind, ist er immer noch eingeladen mitzumachen und mit Begeisterung dabei. Sie waren auch nach der Schulzeit als Ansprechpartner bei Fragen für uns da. An welcher Regelschule gibt es diese intensive Unterstützung!?


Ich habe diesen Beitrag nicht als Pro- oder Contratext geschrieben, es ist einfach meine ganz persönliche Erfahrung. Und wie gesagt, es kommt auch immer auf die Behinderung selbst an. Aber vielleicht helfen meine Worte dem einen oder anderen, bei seiner Entscheidungsfindung und Einstellung.


Liebe Grüße

Sylvie


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